von Dipl.-Jurist Dipl.-Verwaltungswirt Helmut Krethe
I. Die beiden Senate des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) sind in o.a. Sache unterschiedlicher Rechtsauffassung. Im Jahre 2006 hatte der 1. Senat (Az.: 1 BvR 357/05 v. 15.2.2006) entschieden, dass die Verfassung einen Einsatz der Bundeswehr im Inland mit spezifisch militärischen Waffen wegen Verstoßes gegen das Grundrecht auf Leben und die Menschenwürde generell verbietet. Einzige Ausnahme bildet der im Art. 87 a IV 1 Grundgesetz (GG) ausdrücklich genannte Fall der Bekämpfung organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer. In Katastrophenfällen, wie z.B. bei der Abwendung von Gefahren durch Naturkatastrophen oder Terrorismus darf die Bundeswehr gem. Art. 35 I GG allerdings nur mit polizeilichen Mitteln Unterstützung gewähren. Der Einsatz der Bundeswehr zum Abschuss von entführten Passagiermaschinen durch die Luftwaffe, den seinerzeit das Luftsicherheitsgesetz einräumte, wurde für verfassungswidrig angesehen. Der 2. Senat war aufgrund einer Normenkontrollklage der Länder Bayern und Hessen mit Fragen des Luftsicherheitsgesetzes befasst. Der 2. Senat kommt zum Ergebnis, dass künftig auch militärische Kampfmittel für die Abwehr von Terrorismus in engen Grenzen eingesetzt werden dürfen. Aufgrund dieser divergierenden Rechtsauffassung der beiden Senate ist eine Plenarentscheidung erforderlich. Hierbei ging es um folgende Probleme: 1) Gesetzgebungsbefugnis des Bundes; 2) Einsatz der Bundeswehr mit spezifisch militärischen Waffen im Kontext zu Art. 35 II, III GG und 3) Eilkompetenz des Bundesverteidigungsministers in Fällen des überregionalen Katastrophennotstands im Kontext zu Art. 35 III 1 GG. Rechtsgrundlage für die Plenarentscheidung ist § 16 I Bundes-verfassungsgerichtsgesetz. Das Plenum des BVerfG besteht aus allen 16 Richterinnen und Richtern des 1. und des 2. Senats. Mit 15 zu 1 Richterstimme, also mit einer überwältigenden Mehrheit, setzte sich die Auffassung des 2. Senats durch. Demnach sollen militärische Kampfmittel nur in äußersten Ausnahmefällen mit einem katastrofischen Ausmaß zur Gefahrenabwehr zur Anwendung kommen, sofern katastrophale Schäden unmittelbar bevorstehen. Dies erfolgt mit der Maßgabe, dass bei drohenden Katastrophen die gesamte Bundesregierung eine diesbezügliche Entscheidung herbeiführen muss. Das Plenum des BVerfG hebt hervor, dass zu einem besonders schweren Unglücksfall auch der Terrorangriff durch ein mit Zivilisten besetztes Passagierflugzeug gehöre, welches nach wie vor von der Luftwaffe nicht abgeschossen werden darf. Erlaubt ist aber der Aufstieg von Kampfflugzeugen der Luftwaffe, um Warnschüsse abzugeben und eine entführte Maschine durch Abdrängen zur Notlandung zu zwingen. Ein ausschließlich mit Terroristen besetztes Flugzeug darf allerdings abgeschossen werden. Zur Gefahrenabwehr kann die Bundeswehr mit militärischen Kampfmitteln auch gegen Terrorangriffe auf dem Boden und zu Wasser eingesetzt werden. Das BVerfG stellt klar, dass Gefahren, die aus oder von einer demonstrierenden Menschenmenge drohen, kein besonders schwerer Unglücksfall i.S.d. Plenarentscheidung darstellt. II. 1. Die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für die Regelungen der §§ 13 bis 15 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) ergibt sich aus Art. 73 I Nr. 6 GG (ausschließliche Gesetzgebung) in Form einer Annexkompetenz. Der Bund ist hiernach ausschließlich für den Luftverkehr zuständig. Dann muss als Annex dem Bund auch die Befugnis für Regelungen zur Abwehr von Gefahren zustehen, die speziell aus dem Luftverkehr herrühren. Das Gefahrenabwehrrecht des Bundes ergibt sich aus den Normen der §§ 13 ff. LuftSiG. Neben der Mittelbereitstellung für den Fall der Unterstützung von Gefahrenabwehrmaßnahmen der Länder enthalten diese Normen ebenso außenwirksame Ermächtigungen zum Bundeswehreinsatz. 2. Bundeswehreinsatz mit spezifisch militärischen Waffen: Dies ist das Hauptproblem der Plenumsentscheidung. Der Wortlaut von Art. 35 II 2, III GG lässt nach Auffassung des BVerfG nicht zwingend schließen, dass der Bundeswehreinsatz nach Art. 35 GG auf diejenigen Mittel beschränkt ist, die nach dem Gefahrenabwehrrecht der Länder zur Verfügung stehen. Art. 35 GG nennt explizit Naturkatastrophen und besonders schwere Unglücksfälle. Als Naturkatastrophen gelten z.B. die Hamburger Sturmflut 1962 und die Schneekatastrophe in Norddeutschland 1979 Das Tatbestandsmerkmal „besonders schwerer Unglücksfall“ ist zu untersuchen. Zu denken ist etwa an das ICE-Unglück am Bahnhof Eschede 1998 mit mehr als 100 getöteten Fahrgästen. Fraglich ist, ob auch ein Terrorangriff auf ein ziviles Passagierflugzeug als besonders schwerer Unglücksfall einzustufen ist. Nach der anerkannten Definition ist ein Unglücksfall ein plötzliches Ereignis, bei dem Menschen verletzt oder getötet und / oder Sachen schwer beschädigt oder zerstört werden. Das BVerfG stellt in der Plenumsentscheidung fest, dass es sich bei diesem Tatbestandsmerkmal um ungewöhnliche Ausnahmesituationen katastrophalen Ausmaßes handeln muss. Voraussetzung muss nach Ansicht des Gerichts ein innerer Notstand sein. Als innerer Notstand wird die Notlage eines Landes z.B. durch schwere Unglücksfälle bezeichnet. Die Entführung einer zivilen Passagiermaschine mit Drohung eines Absturzes auf bewohntem Gebiet stellt unzweideutig ein Terrorangriff dar (siehe USA 11.9.2001). Es handelt sich somit um eine ungewöhnliche Ausnahmesituation katastrophalen Ausmaßes und demzufolge um einen besonders schweren Unglücksfall. Auf der Grundlage von Art. 35 II, III GG kann die Bundeswehr daher nur in Ausnahmesituationen eingesetzt werden, die nicht von der in Art. 87 a IV GG geregelten Art sind. Auch muss der Unglücksfall bereits vorliegen, d.h., der Unglücksverlauf muss bereits begonnen haben und der Eintritt eines katastrophalen Schadens mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit unmittelbar bevorstehen. Der Bundeswehreinsatz mit spezifisch militärischen Abwehrmitteln ist in einer solchen Gefahrenlage nur als ultima ratio zulässig. Das Gericht hält fest, dass eine umfassende Gefahrenabwehr für den Luftraum mittels des Bundeswehreinsatzes nicht auf Art. 35 II, III GG gestützt werden kann. 3. Entscheidungskompetenz der Bundesregierung: Der Einsatz der Bundeswehr im überregionalen Katastrophenzustand wird gem. Art. 35 III 1 GG durch die Bundesregierung angeordnet. Diese Beschlusszuständigkeit auf ein einzelnes Mitglied der Bundesregierung, z.B. dem Bundesverteidigungsminister, zu delegieren, liegt nicht in der Befugnis der Bundesregierung. Die Bundesregierung handelt hier als Kollegialorgan. Es stellt sich die Frage, ob eine Befugniskompetenz des Bundesverteidigungsministers dahingehend gesehen werden kann, da er Ressortzuständig ist (Art. 65 II GG) und ihm die Befehls- und Kommandogewalt über die Streitkräfte obliegt (Art. 65 a GG). Die Regelung in Art. 35 III 1 GG ist lex specialis. Dem Minister obliegt somit nicht die Befugnis über den Einsatz der Bundeswehr im überregionalen Katastrophennotstand zu entscheiden. Auch an eine Eilkompetenz des Ministers ist nicht zu denken, da Art. 35 III GG nicht aus einem auf wirksame Gefahrenabwehr gerichteten Zweck abgeleitet wird. Auch staatliche Schutzpflichten geben keine Eilkompetenz des Ministers her. Als einzige Auslegungsmethode kann hier nur die grammatische Auslegung gesehen werden. Das BVerfG spricht hier vom Gebot strikter Texttreue. III. Richter am BVerfG Gaier hat ein Sondervotum abgegeben. Er ist der Auffassung, dass das GG den Kampfeinsatz der Bundeswehr im Inneren mit spezifisch militärischen Waffen sowohl in Fällen des regionalen wie in Fällen des überregionalen Katastrophennotstands (Art. 35 II 2, III 1 GG) ausschließt. Er wirft seinen Richterkollegen vor, dass der Plenarbeschluss die Wirkung einer Verfassungsänderung und das Plenum des Gerichts seine Befugnisse überschritten habe. Wenn die Trennung von Militär und Polizei aufgegeben werden soll, dann müsse hierfür das GG geändert werden. Bewertung: Die Sicherheit unserer Bürger, gerade auch in Extremfällen, zu gewährleisten, ist eines der wichtigsten Aufgaben des Staates. Dabei bleibt die Trennung von innerer und äußerer Sicherheit richtig. Warum soll allerdings ein Staat zur Abwehr schwerster, z.B. terroristischer Gefahren, auf vorhandene Möglichkeiten zum Schutz seiner Bürger verzichten? Die Plenarentscheidung des BVerfG bedeutet nach diesseitiger Ansicht keine Aufhebung des Trennungsgebotes zwischen Polizei und Bundeswehr, sondern eine sinnvolle militärische Hilfeleistung in außergewöhnlichen Extremsituationen. Die Schutzpflicht des Staates hat zu Recht Vorrang gegenüber Zuständigkeitsfragen der Sicherheitsbehörden. 18.9.2012 |