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von Dipl.-Jurist Dipl.-Verwaltungswirt Helmut Krethe

 

I. Begriffsbestimmung

Unter einer Vorratsdatenspeicherung (im folgenden VSD abgekürzt) versteht man die Speicherung personenbezogener Daten durch oder für öffentliche Stellen, ohne dass die Daten aktuell benötigt werden. Sie werden also nur für den Fall gespeichert, dass sie einmal benötigt werden sollten.

In der rechtspolitischen Debatte bezieht sich der Begriff meist auf die VSD von Telekommunikations(TK)-Verbindungsdaten. Diese betrifft die Verpflichtung der Anbieter von TK-Diensten zur Registrierung der Verbindungsdaten von elektronischen Kommunikationsverbindungen, ohne dass ein Anfangsverdacht oder eine konkrete Gefahr besteht. Zweck der VSD ist die verbesserte Möglichkeit der Verhütung und Verfolgung von schweren Straftaten.

 

II. Legende

Am 14.12.2005 stimmte das Europäische Parlament für die EU-Richtlinie zur VSD. Am 21.2.2006 stimmte der Europäische Rat der Innen- und Justizminister für die Richtlinie.

Der Europäischen Gerichtshof (EuGH) hat mit Urteil vom 8.4.2014 (Az.: C-293/12 und C-594/12) die VSD-Richtlinie wegen Verstoßes gegen das in der Europäischen Grundrechtscharta normierte Grundrecht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GRC), des Grundrechts auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GRC) und wegen Verstoßes gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit (Art. 52 GRC) als ungültig aufgehoben.

Der EuGH ist der Auffassung, dass sich Ausnahmen vom Schutz personenbezogener Daten und dessen Einschränkung auf das absolut Notwendige beschränken müsse; dass der Schutz personenbezogener Daten für das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens von besonderer Bedeutung sei und das in der Richtlinie keine wie immer geartete Einschränkung des Personenkreises deren Daten gespeichert werden soll, bestünde. Ferner war keine Dauer der Verwendung der zu erhebenden Daten normiert. Auch wurde keine konkrete Nennung der schweren Straftaten in der Richtlinie genannt. Hier wurde auf nationale Regelungen verwiesen. Ferner wurde die Richtlinie als ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit eingestuft.

Das am 9.11.2007 vom Bundestag beschlossene Gesetz zur Regelung der TK-Überwachung wurde aufgrund von Verfassungsbeschwerden durch Urteil vom 2.3.2010 für verfassungswidrig erklärt. Wesentliche Begründung des Bundesverfassungsgerichts war ein Verstoß gegen Art. 10 I Grundgesetz (GG). Eine anlasslose Speicherung von personenbezogenen Daten als Vorrat verstoße nach geltendem Recht gegen den Grundsatz, dass personenbezogene Daten grundsätzlich nur dann gespeichert werden dürfen, wenn dies zu einem bestimmten, gesetzlich zugelassenen Zweck erforderlich sei. Die VSD sei zwar nicht grundsätzlich mit dem GG unvereinbar; im Hinblick auf das TK-Geheimnis der betroffenen Bürger sei aber Voraussetzung, dass die Daten nur dezentral gespeichert und mit besonderen Maßnahmen gesichert würden. Die unmittelbare Nutzung der Daten durch Behörden müsse auf genau spezifizierte Fälle schwerster Kriminalität und schwerer Gefahren beschränkt bleiben. Diesen Anforderungen genüge jedoch das Gesetz vom 9.11.2007 nicht.

Der Deutsche Juristentag sprach sich im September 2012 auf der 69. Tagung in München für die Einführung der VSD aus. Im Zuge der Pariser Anschläge von Januar 2015 („Charlie Hebdo“) sprechen sich auch eine Reihe von Politikern für die Einführung aus. Gegner dieser Meinung vertreten die Auffassung, dass durch eine VSD lediglich ein unverhältnismäßig geringer Nutzen entstehen würde. Die in Frankreich bestehende VSD habe die Anschläge von Paris nicht verhindern können.

 

III. Es wird im Folgenden der Frage nachgegangen, ob eine Einführung der anlasslosen VSD auf Unionsebene und in Deutschland ein unverhältnismäßiger Eingriff in EU-Grundrechte sowie in Grundrechte des GG darstellen würde.

In Betracht kommen aus der EU-Grundrechtscharta die Art. 7 (Achtung des Privat- und Familienlebens), Art. 8 (Schutz personenbezogener Daten), Art. 15, 16 (Berufs- und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit) sowie aus dem Grundgesetz die Art. 10 (Post- und Fernmeldegeheimnis), Art. 12 (Berufsausübungsfreiheit) und Art. 2 (informationelle Selbstbestimmung).

 

IV. Eingriffe in die Grundrechte der Grundrechtscharta

Vorbemerkung: Der Anwendungsbereich der Grundrechtscharta, die in vielen Bereichen der Menschenrechtskonvention nachgebildet ist, ist nur dann eröffnet, wenn Organe oder Einrichtungen der Union oder die Mitgliedsstaaten Unionsrecht, also Primär- und Sekundärrecht der EU durchführen (Art. 51 GRC). Die Grundrechtscharta findet dann Anwendung, wenn die Mitgliedsstaaten durch Erlass eines Rechtsaktes EU-Vorgaben umsetzen oder aufgrund von EU-Recht Verwaltungstätigkeiten vornehmen. Da es sich hier um einen Sekundärakt der Union handelt, kann die Prüfung am Maßstab der Grundrechtscharta erfolgen.

 

1. Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GRC)

a) Schutzbereich
Dieses Grundrecht bedeutet, dass der Staat Eingriffe zu unterlassen und den Schutz des Privat- und Familienlebens sicherzustellen hat. Geschützt sind das Privatleben und die Kommunikation. Privatleben bedeutet freie Entwicklung der Persönlichkeit und Schutz der Privatsphäre, also die äußere Beziehung zu anderen Menschen sowie Bewegung im öffentlichen Raum ohne hierbei vom Staat überwacht zu werden.

b) Eingriff
Ein Eingriff ist gegeben bei Überwachung von Gesprächsdaten (Rufnummer, Uhrzeit, Datum, Dienste, Funkzelle, IP-Adresse) sowie der Herstellung eines Bewegungsprofils. Aus Angst, dass der Staat die o.g. Daten abrufen könnte, könnte eine Einschränkung der Nutzung der TK-Dienste vorliegen. Ein Eingriff in das Grundrecht ist somit zu bejahen.

 

2. Recht auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GRC)

Der Umfang dieses Grundrechts wird durch das Unionsrecht konkretisiert.

a) Schutzbereich
Geschützt sind persönliche Daten, also alle Informationen über bestimmte oder bestimmbare natürliche Personen. Insbesondere sind geschützt die Speicherung der Adressen und Namen sowie IP-Adressen des Anrufers und der angerufenen Person.

b) Eingriff
Ein Eingriff ist gegeben bei Verarbeitung, also Verwertung der Daten wie Erheben, Speichern, Organisation, Aufbewahrung, Anpassung oder Veränderung, Auslesen, Benutzung, Weitergabe durch Übermittlung etc. Bei Zugriff der Daten durch staatliche Organe ist ein Eingriff in das Grundrecht somit zu bejahen.

 

3. Recht auf Berufs- und wirtschaftliche Betätigungsfreiheit (Art. 15, 16 GRC)

Hierunter ist eine erlaubte selbständige und unselbständige berufliche Tätigkeit i.S. einer umfassenden Betätigungsfreiheit mit Gewinnerzielungsabsicht gemeint.

a) Schutzbereich
Der sachliche Anwendungsbereich bezieht sich auf jede Wirtschafts- oder Geschäftstätigkeit eines Unternehmens.

Der persönliche Anwendungsbereich umfasst alle natürlichen und juristischen Personen. Die europäischen TK-Unternehmen gehören zum geschützten Personenkreis gem. Art. 16 GRC.

b) Eingriff
Ein Eingriff in das Grundrecht ist dann gegeben, wenn ein Nachteil bezweckt oder unmittelbar bewirkt wird. Der Grundrechtsschutz wird zurechenbar verkürzt, als das die TK-Unternehmen über ihren Eigenbedarf hinaus zur Speicherung der Nutzerdaten verpflichtet werden. Eine Verpflichtung zur Speicherung für einen bestimmten Zeitraum bedeutet einen erhöhten Verwaltungsaufwand. Die TK-Unternehmen wären verpflichtet hierfür eine betriebliche Infrastruktur zu schaffen und bereitzuhalten. Ein Eingriff in das Grundrecht ist somit zu bejahen.

 

4. Rechtfertigung der Eingriffe in die Grundrechte der GRC (Art. 7, 8, 15, 16)

Die Grundrechte der Grundrechtscharta sind grundsätzlich nicht schrankenlos gewährt. Eine allgemeine Schrankenbestimmung enthält Art. 52 GRC, die eine Auffangnorm darstellt. Hiernach muss jede Einschränkung der Ausübung der in der Charta anerkannten Rechte und Freiheiten gesetzlich vorgesehen sein und den Wesensgehalt dieser Rechte und Freiheiten achten. Unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit dürfen Einschränkungen nur vorgenommen werden, wenn sie notwendig sind und den von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen oder den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen.  Eine Verweisung auf die EMRK bewirkt, dass die Rechte der Charta in der Union gewährt werden, den ihnen die EMRK einräumt. Ähnlich sieht Art. 52 II GRC vor, dass die Rechte, die den Verträgen entstammen, deren Grenzen unterliegen.

a) Art. 7 GRC
Eine Rechtfertigung der Einschränkung des Grundrechts der Achtung des Privat- und Familienlebens käme in Betracht, wenn die Einschränkung gesetzlich vorgesehen und für die nationale oder öffentliche Sicherheit und zur Verhütung von Straftaten notwendig ist.

a) Der Erlass einer EU-Richtlinie zur VSD wäre eine gesetzliche Grundlage (Sekundärrecht).

b) Eine solche Richtlinie muss für die nationale oder öffentliche Sicherheit notwendig sein.

aa) Unter nationaler Sicherheit oder auch äußerer Sicherheit genannt wird die Sicherheit eines Staates vor Bedrohungen militärischer Natur durch andere Staaten oder Staatengruppen verstanden sowie auch nichtmilitärische Risiken wie Terrorismus, Organisierte Kriminalität, Wirtschaftsspionage etc. Unter Terrorismus sind Gewalt oder Gewaltaktionen gegen eine politische Ordnung zu verstehen, um einen politischen Wandel herbeizuführen. Terror ist ein Druckmittel, um Unsicherheit und Schrecken bei den Menschen zu verbreiten.

Um den Bestand des Staates und seiner Einrichtungen vor Terrorakten zu schützen, ist die Einschränkung des Grundrechts der Achtung des Privat- und Familienlebens gerechtfertigt, sofern der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird, was noch zu prüfen sein wird.

bb) Der Begriff der öffentlichen Sicherheit ist unionsrechtlich zu definieren; er ist nicht deckungsgleich mit dem Begriff des deutschen Polizei- und Ordnungsrechts. Der unionsrechtliche Begriff der öffentlichen Sicherheit ist aber auch nicht definiert. Hier hilft die Rechtsprechung des EuGH, der verlangt, dass

 →ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt sein muss, das kein rein wirtschaftliches Interesse sein darf und

 →eine tatsächliche und hinreichend schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung vorliegen muss. Unter öffentlicher Ordnung im Unionsrecht ist die Störung der Gesellschaftsordnung, die jeder Verstoß gegen Strafgesetze in sich birgt, zu verstehen.

aaa) In Art. 1 GRC ist normiert, dass die Würde des Menschen unantastbar ist; sie ist zu achten und zu schützen. Gem. Art. 2 I GRC hat jede Person das Recht auf Leben und gem. Art. 3 I GRC das Recht auf körperliche und geistige Unversehrtheit. Schlussendlich hat gem. Art. 6 GRC jede Person das Recht auf Freiheit und Sicherheit.

Diese in Art. 1, 2 I, 3 I und 6 GRC normierten Werte bilden das Grundinteresse der Gesellschaft in der Union. In Art. 6 GRC wird das Recht auf Sicherheit explizit genannt. Das bedeutet, dass der Staat, soweit es ihm möglich ist, die Sicherheit seiner Bürger zu schützen hat. Dieses Grundinteresse stellt auch kein rein wirtschaftliches Interesse dar.

bbb) Es muss sich um eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung handeln. Bei der Einschränkung des Grundrechts aus Art. 7 GRC kann hier nicht jeder Straftatbestand, der von Straftätern beabsichtigt wird zu begehen, herangezogen werden. Eine schwerwiegende Gefährdung der öffentlichen Ordnung liegt in Straftatbeständen, wie sie im Katalog des § 100 a II StPO genannt sind. Unter der Voraussetzung, dass auch hier der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist, wäre eine Einschränkung des Grundrechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens gerechtfertigt.

b) Art. 8 GRC
Eine Rechtfertigung der Einschränkung des Grundrechts auf Schutz personenbezogener Daten ist nur dann gegeben, wenn sie auf einer gesetzlich legitimen Grundlage verarbeitet werden. Eine solche gesetzlich legitime Grundlage könnte eine EU-Richtlinie VSD sein. Diese muss dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen, was noch zu prüfen ist.

c) Art. 15, 16 GRC
Eine Rechtfertigung der Einschränkung des Grundrechts der Berufs- und wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit käme in Betracht, wenn die Einschränkung gesetzlich vorgesehen ist und dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht, wobei die unternehmerische Freiheit nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten anerkannt wird. Eine gesetzlich legitime Grundlage könnte eine EU-richtlinie VSD sein.

 

5. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bedeutet, dass von mehreren Möglichkeiten und geeigneten Maßnahmen diejenige zu treffen ist, die den Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Eine Maßnahme darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht.

Eine EU-Richtlinie VSD müsste insbesondere verhältnismäßig, also zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignet, erforderlich und angemessen (verhältnismäßig im engeren Sinne) sein und den Wesensgehalt der Grundrechte achten.

a) Legitimes Ziel
Als legitime Ziele einer EU-Richtlinie VSD sind die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung; die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten sowie der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer anzusehen.

b) Geeignetheit der Eingriffe
Die Eingriffe in EU-Grundrechte müssen geeignet sein, das legitime Ziel zu fördern. Maßgeblich ist die abstrakte Eignung. Die anlasslose VSD ist unter Beachtung der Einschätzungsprägorative des Gesetzgebers abstrakt geeignet, die genannten Ziele zu erreichen, da hierdurch Aufklärungsmöglichkeiten geschaffen werden, die sonst nicht bestünden.

c) Erforderlichkeit der Eingriffe
Erforderlich sind die Eingriffe in EU-Grundrechte dann, wenn keine alternativen Maßnahmen bestehen, mit denen das Ziel ebenso gut erreicht werden kann und die in geringerem Umfang in Grundrechte des Einzelnen eingreifen.

aaa) Als milderes Mittel könnte das „Quick-freeze-Verfahren“ in Betracht kommen. Bei diesem Verfahren werden im Normalfall die Daten, die das TK-Unternehmen zu Abrechnungszwecken erhoben hat, nach Gebrauch gelöscht. Besteht nun ein Anfangsverdacht gegen eine Person, so können die zuständigen Ermittlungsbehörden eine Speicheranordnung treffen, aufgrund derer die Daten nicht gelöscht, sondern vorübergehend eingefroren bzw. aufbewahrt werden. Sobald der entsprechende richterliche Beschluss vorliegt, ist die Nutzung der Daten erlaubt. Sie werden wieder aufgetaut und der Strafverfolgungsbehörde ausgehändigt.

Diese Methode ist zwar weniger einschneidend als die in der ursprünglichen Richtlinie vorgesehene anlasslose VSD, da zur dauerhaften Speicherung bereits ein Anfangsverdacht gegen die Person, deren Daten eingesehen werden sollen, vorliegen muss. Allerdings ist nicht sicher, dass ein solches milderes Mittel auch ebenso effektiv wäre wie eine anlasslose VSD. Denkbar ist durchaus, dass in einem Fall der Anfangsverdacht nicht gegeben ist und die Daten deshalb routinemäßig gelöscht werden und somit für die Strafverfolgungsbehörden verloren gehen. In Deutschland würde aufgrund des allgemein strengen Datenschutzes das Quick-freeze-Verfahren leerlaufen, da die Speicherung von Daten die Ausnahme ist und somit auch keine Daten eingefroren werden könnten. Dieses mildere Mittel kann somit nicht als gegeben angesehen werden.

bbb) Im Hinblick auf die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit ist die Erforderlichkeit einer Sperrfrist zu diskutieren. Eine in der ursprünglichen EU-Richtlinie vorgesehene Sperrfrist von sechs Monaten bis zu zwei Jahren würde bedeuten, dass eine große Menge der zu speichernden Daten logistisch von den TK-Unternehmen zu bewältigen wäre. Aus Analysen schwedischer und britischer Stellen aus dem Jahr 2005 ergibt sich, dass sich die Datenabfragen der Behörden zu 80 – 85 % auf den Zeitraum der letzten drei Monate beziehen. Unter der Prämisse der Erforderlichkeit wird diesseits eine Speicherfrist von vier Monaten als rechtmäßig angesehen.

Die Eingriffe in EU-Grundrechte wären somit mangels eines milderen Mittels erforderlich.

 

d) Angemessenheit der Eingriffe
Die die EU-Grundrecht berührenden Regelungen einer EU-Richtlinie zur VSD müssen verhältnismäßig im engeren Sinne sein. Es geht hierbei darum, die betroffenen Interessen gegeneinander abzuwägen.

Hinsichtlich der Verwendung der Daten sollen diese nur im Einklang mit den Grundrechten zur Verfolgung bzw. Verhütung von schweren Straftaten, insbesondere der organisierten Kriminalität und des Terrorismus verwendet werden.

Die zu speichernden Daten dürfen keinen Aufschluss auf den Inhalt der Kommunikation geben. Erfasst werden sollte nur, wer, wann und von wo aus mit wem Kontakte hatte.

Eine angemessene Dauer der Speicherung von bis zu vier Monaten gilt nach diesseitiger Rechtsauffassung als angemessen.

Problematisch könnte sich die Kostenlast für die TK-Anbieter darstellen. Mehrbelastungen könnten durch die Anschaffung von Hard- und Software sowie durch Kosten für den Betrieb, zum Beispiel für Personal und Datensicherung entstehen. Eine Harmonisierung in dieser Frage existiert nicht. In der Nichtigkeitsklage Irlands gegen die ursprüngliche EU-Richtlinie RL 2006/24/EG ist der EuGH  einer Kostenabwälzung auf den Staat entgegengetreten mit dem Argument, dass die Richtlinie nach Auffassung des EuGH in überwiegendem Maß das Funktionieren des Binnenmarktes betreffe und ihr Erlass insbesondere im Hinblick auf die Harmonisierung der unterschiedlichen nationalen Vorschriften zur VSD geboten gewesen sei. Allerdings ist feststellbar, dass nationale Regelungen von einer vollen Auferlegung bis hin zu einer weitgehenden Erstattung der Kosten ausgehen. Den TK-Anbietern in Deutschland werden die mit der VSD verbundenen Kosten ausdrücklich nicht ersetzt, wobei aber ein Ersatz jener Kosten erfolgt, die im Zusammenhang mit der Beantwortung von Auskunftsersuchen entstehen (TK-Entschädigungs-Neuordnungsgesetz).

Eine EU-Richtlinie sollte vorschreiben, dass die Mitgliedsstaaten dafür Sorge zu tragen haben, dass lediglich Daten bei schweren Straftaten wie sie in Deutschland im Sinne des Katalogs des § 100 a II StPO genannt sind, gespeichert werden. Die EU-Richtlinie sollte sich auf die Anordnung der Speicherpflicht beschränken und den Mitgliedsstaaten besondere Rahmenbedingungen vorgeben. Die Mitgliedsstaaten sollten bei der Ausfüllung des Rahmens verpflichtet werden die Grundrechtscharta und das Grundgesetz zu beachten.

Die Eingriffe in EU-Grundrechte wären somit angemessen.

 

V. Ergebnis

Eine zu erlassende rechtmäßige EU-Richtlinie VSD würde eine erhebliche Grundrechtsrelevanz aufweisen. Da sie sich aber auf die Anordnung der Datenspeicherung auf Vorrat beschränken müsste und im Übrigen die wirklich sensiblen Bereiche, wie den Zugang zu und die Verwendung der Daten, den Mitgliedsstaaten überlassen müsste, läge kein offensichtlicher Verstoß gegen die Grundrechtscharta vor. Vielmehr müsste sie die Mitgliedsstaaten verpflichten, die Richtlinie grundrechtskonform umzusetzen. Um Missbrauch vorzubeugen, müssen Mindestanforderungen an den Datenschutz und die Einrichtung unabhängiger Kontrollstellen in den Mitgliedsstaaten erlassen werden.

Unter diesen Prämissen würde eine EU-Richtlinie VSD kein unverhältnismäßiger Eingriff in Grundrechte der Grundrechtscharta darstellen.

 

VI. Eingriffe in die Grundrechte des Grundgesetzes

1. Grundrecht auf Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG)

a) Schutzbereich
Das durch Art. 10 I GG gewährleistete TK-Geheimnis, welches die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mit Hilfe des TK-Verkehrs vor einer Kenntnisnahme durch die öffentliche Gewalt schützt, erfasst nicht nur die Inhalte der Kommunikation und den ersten Zugriff, sondern auch die Vertraulichkeit der näheren Umstände des Kommunikationsvorganges sowie die Informations- und Datenverarbeitungsprozesse, die sich an die Kenntnisnahme von geschützten Kommunikationsvorgängen anschließen, und den Gebrauch, der von den erlangten Kenntnissen gemacht wird. 

b) Eingriff
Eingriffsqualität hat jede Kenntnisnahme, Aufzeichnung und Verwertung von Kommunikationsdaten sowie jede Auswertung ihres Inhalts oder sonstige Verwendung durch die öffentliche Gewalt. In der Erfassung von TK-Daten, ihrer Speicherung, ihrem Abgleich mit anderen Daten, ihrer Auswertung, ihrer Selektierung zur weiteren Verwendung oder ihrer Übermittlung an Dritte lägen damit je eigene Eingriffe in das TK-Geheimnis vor. Die Eingriffsqualität des § 113 a TKG wird auch nicht dadurch in Frage gestellt, dass die in dieser Norm vorgeschriebene Speicherung nicht durch den Staat selbst, sondern durch private TK-Anbieter erfolgt, da diese allein als Hilfspersonen für die Aufgabenerfüllung durch staatliche Behörden in Anspruch genommen werden.

 

2. Recht auf Berufsfreiheit (Art. 12 GG)

a) Schutzbereich
Art. 12 I GG schützt den Beruf, d.h. jede Tätigkeit, die auf Dauer berechnet ist und Erschaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dient (BVerfGE 7, 377, 397 ff.). Zum Beruf gehört die Berufswahlfreiheit und die Berufsausübungsfreiheit als einheitliches Grundrecht. Zur Berufsausübungsfreiheit zählt die Bestimmung über Form, Mittel und Umfang sowie Inhalt der beruflichen Tätigkeit.

b) Eingriff
Ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit stellen Regelungen mit subjektiv berufsregelnder Tendenz, mit objektiv berufsregelnder Tendenz sowie als Realakte dar. Durch eine staatliche Anordnung an TK-Unternehmen personenbezogene Daten für eine bestimmte Zeitdauer zu speichern und sie staatlichen Organen zugänglich zu machen, liegt ein Eingriff in Form einer subjektiv berufsregelnden Tendenz vor, da die TK-Unternehmen zu einer Auskunftspflicht verpflichtet werden und dafür logistische Vorkehrungen treffen müssen, die möglicherweise finanzielle Auswirkungen auf die TK-Unternehmen haben.

 

3. Recht auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I GG)

a) Schutzbereich
Der Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts erfasst einen engeren Bereich personaler Autonomie. Hierzu zählt neben dem Recht auf Selbstbestimmung und dem Recht auf Selbstdarstellung auch das Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit setzt unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung den Schutz des Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten voraus. Das Grundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner Daten zu bestimmen (vgl. BVerfGE 65, 1, 43).

b) Eingriff
Die Auskunftserteilung von TK-Unternehmen an staatliche Behörden, also die Verarbeitung der von TK-Unternehmen erhobenen Daten einzelner Bürger (Kunden), stellt einen Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung dar.

 

4. Rechtfertigung der Eingriffe in die Grundrechte (Art. 10, 12, 2 I i.v.m. 1 I GG)

Materiell verfassungsgemäß wäre ein Gesetz zur Einführung der anlasslosen VSD, wenn sie legitimen Gemeinwohlzwecken dienen und im Übrigen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit genügen, d.h. zur Erreichung der Zwecke geeignet, erforderlich und angemessen sind.

a) Art. 10 I GG
Das Grundrecht unterliegt einem Gesetzesvorbehalt. Der Gesetzesvorbehalt des Art. 10 II 1 GG verlangt zunächst das Vorliegen eines formellen Gesetzes. Dies könnte ein zu erlassendes Gesetz zur Regelung der anlasslosen VSD sein. Der besondere Gesetzesvorbehalt des Art. 10 II 2 GG erleichtert unter bestimmten Voraussetzungen Eingriffe in das Fernmeldegeheimnis. Der Gesetzesvorbehalt ist nur dann anwendbar, wenn eine Beschränkung dem Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder des Bestandes oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes dient. In solchen Fällen kann das Gesetz bestimmen, dass die Überwachung dem Betroffenen nicht mitgeteilt wird, wenn dies notwendig ist, was noch bei der Verhältnismäßigkeit zu prüfen ist. Die Abfrage oder Übermittlung der Daten ist grundsätzlich unter Richtervorbehalt zu stellen. Unter diesen Voraussetzungen wäre ein Gesetz zur Regelung der anlasslosen VSD gerechtfertigt.

b) Art. 12 I GG
Art. 12 I 2 GG enthält einen Regelungsvorbehalt allein für die Berufsausübung. Dies stellt sich wie ein Gesetzesvorbehalt dar. Da es sich bei der Berufsfreiheit um ein einheitliches Grundrecht handelt, bezieht sich der Gesetzesvorbehalt auf das gesamte Grundrecht der Berufsfreiheit. Jeder Eingriff in die Berufsfreiheit bedarf einer formell-gesetzlichen Grundlage. Dies könnte ein Gesetz zur Regelung der anlasslosen VSD sein. Das einschränkende Gesetz muss hinreichend bestimmt sein, also Umfang und Grenzen des Eingriffs deutlich erkennen lassen. Sofern weiter der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Beachtung findet, wäre eine Einschränkung der Berufsfreiheit gerechtfertigt.

c) Art. 2 I i.V.m. 1 I GG
Der Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung wäre verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn er der Schrankenregelung des Grundrechts gerecht wird. Der Einzelne muss Einschränkungen seines Rechts auf informationelle Selbstbestimmung  auf verfassungskonformer gesetzlicher Grundlage im überwiegenden Allgemeininteresse hinnehmen. Auf das allgemeine Persönlichkeitsrecht, dessen Unterfall das Recht auf informationelle Selbstbestimmung darstellt, ist die Schrankenregelung des Art. 2 I GG anwendbar.

Unter dieser Voraussetzung und bei Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit wäre ein Gesetz zur Regelung der anlasslosen VSD gerechtfertigt.

 

5. Grundsatz der Verhältnismäßigkeit

a) Legitimes Ziel
Als legitime Ziele eines Gesetzes zur Regelung der anlasslosen VSD sind die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung; die Verhütung, Ermittlung, Feststellung und Verfolgung von Straftaten sowie der Schutz der Rechte und Freiheiten anderer anzusehen.

b) Geeignetheit der Eingriffe
Die Eingriffe in Grundrechte des GG müssen geeignet sein, das legitime Ziel zu fördern. Die anlasslose VSD ist unter Beachtung der Einschätzungsprägorative des Gesetzgebers abstrakt geeignet, die genannten Ziele zu erreichen, da hierdurch Aufklärungsmöglichkeiten geschaffen werden, die sonst nicht bestünden.

c) Erforderlichkeit der Eingriffe

Erforderlich sind die Eingriffe in Grundrechte dann, wenn keine alternativen Maßnahmen bestehen mit denen das Ziel ebenso gut erreicht werden kann und die in geringerem Umfang in Grundrecht des Einzelnen eingreifen. Weniger einschneidende Mittel sind nicht erkennbar.

d) Angemessenheit der Eingriffe

Bei der Angemessenheit ist das staatliche Interesse an einer wirksamen Strafverfolgung mit den rechtlich geschützten Interessen Dritter abzuwägen. Eingriffe in Rechte Unverdächtiger sind in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftig. Der jeweilige Eingriff muss in einem angemessenen Verhältnis zu der Schwere der Straftat und der Stärke des Tatverdachts stehen. Um dem Übermaßverbot zu genügen, muss der Gesetzgeber verfahrensrechtliche Schutzvorkehrungen treffen, die der Gefahr einer Verletzung des Persönlichkeitsrechts entgegen wirken.

Ein Datenabruf grundsätzlich ohne Wissen des Betroffenen wird von der Rechtsprechung als zulässig erachtet.

Soweit durch die Auferlegung von Speicherungspflichten in die Berufsausübungsfreiheit der TK-Unternehmen eingegriffen wird, lässt sich ein Verfassungsverstoß nicht feststellen, da die Auferlegung der Speicherungspflicht typischerweise nicht übermäßig belastend wirkt.

 

aa) Es könnte konkurrierendes Verfassungsrecht vorliegen: auf der einen Seite stehen die Grundrechte aus Art. 10, 12 und 2 GG und auf der anderen Seite könnte der Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung oder der Bestand des Staates oder der Sicherung des Bundes oder eines Landes stehen.

Bei der freiheitlich-demokratischen Grundordnung geht es um die Strukturprinzipien des Grundgesetzes wie: Achtung der Menschenrechte, Volkssouveränität, Gewaltenteilung, Verantwortlichkeit der Regierung, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Unabhängigkeit der Gerichte, Mehrparteienprinzip.

Bei der anlasslosen VSD geht es nicht um die freiheitlich-demokratische Grundordnung als Strukturprinzipien des Grundgesetzes. Ebenso geht es nicht um den Bestand des Staates und seiner Einrichtungen, so dass konkurrierendes Verfassungsrecht diesbezüglich nicht vorliegt.

 

bb) Es könnte konkurrierendes Verfassungsrecht vorliegen undzwar die bereits in Rede stehenden Grundrechte aus Art. 10, 12 und 2 GG auf der einen Seite und der inneren Sicherheit auf der anderen Seite. Fraglich ist also, ob ein Grundrecht auf innere Sicherheit existiert. Art. 6 der EU-Grundrechtscharta normiert ein solches Grundrecht auf Unionsebene; im Grundgesetz ist ein Grundrecht auf innere Sicherheit wörtlich nicht zu finden.

Innere Sicherheit bezeichnet den Schutz der Gesellschaft und des Staates vor Kriminalität, Terrorismus und vergleichbaren Bedrohungen, die sich aus dem Inneren der Gesellschaft selbst heraus entwickeln.

Nach diesseitiger Ansicht ist ein Grundrecht auf innere Sicherheit in Art. 1 I GG hineinzulesen. Demnach ist die Würde des Menschen unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Art. 1 I GG ist somit das „Grundgesetz“ des Grundgesetzes. Alle anderen Grundrechte gehen aus Art. 1 I GG hervor.

Die h.L. geht davon aus, dass Art. 1 I GG Grundrechtscharakter hat. Dafür spricht die Stellung im ersten Abschnitt. Der Schutzbereich wird positiv umschrieben als der „allgemeine Eigenwert, der dem Menschen kraft seiner Persönlichkeit zukommt“.

Dem Staat obliegt demnach besonders ein Schutz der Menschen vor Kriminalität, Terrorismus und vergleichbaren Bedrohungen. Unter dieser Prämisse wäre auch ein Eingriff in das Grundrecht aus Art. 10 I GG gerechtfertigt.

Die Eingriffe in die Grundrechte aus Art. 10, 12 und 2 GG wären somit angemessen.

 

VII. Ergebnis 

Ein zu erlassenes Gesetz zur Regelung der anlasslosen VSD hätte erhebliche Grundrechtsrelevanz. Unter folgenden Voraussetzungen wäre ein zu erlassenes Gesetz zur Regelung der anlasslosen VSD nach diesseitiger Rechtsauffassung zulässig:

→das Gesetz muss einen bestimmten zugelassenen Zweck verfolgen,

→die Daten müssen dezentral gespeichert und mit besonderen Maßnahmen gesichert werden,

→das Gesetz muss für genau spezifizierte Fälle schwerster Kriminalität und schwerer Gefahren beschränkt werden (Katalog des § 100 a II StPO).

 

Ein solches Gesetz würde keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Grundrechte des Grundgesetzes darstellen.

 

HK, Februar 2015