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A)

I.

Am Abend des 22. März 2020 haben sich in einer Telefonkonferenz die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten aufgrund der durch die Corona-Krise zugespitzten Lage (hohes Aufkommen an infizierten Personen) auf ein Paket von Gesetzesänderungen, darunter auch Grundrechtsbeschränkungen, verständigt. Dieses Gesetzespaket (u.a. die Ergänzung des Infektionsschutzgesetzes) wurde vom Bundestag am 25. März und vom Bundesrat am 27. März beschlossen.

 

II.

Zuvor haben sich die Bundesländer am Montag, 23. März (Bayern schon am 20. März) auf die Schließung von Einrichtungen, Verbot von Veranstaltungen, Verbot der Ansammlung von mehr als zwei Personen (Ausnahme: Familienverband) und der Beschränkung des Aufenthalts im öffentlichen Raum bis auf Weiteres verständigt.

Als Rechtsgrundlage für die genannten Grundrechtsbeschränkungen wurde in den Landes-Verordnungen § 32 S. 1 i.V.m. § 28 I 1,2 Infektionsschutzgesetz genannt.

III.

Fraglich ist, ob es sich hierbei um eine taugliche Rechtsgrundlage handelt (Stand vor der Gesetzesänderung).

1.

Hiernach können Schutzmaßnahmen durch zuständige Behörden, solange und soweit es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist, verhängt werden. Insbesondere wird verwiesen auf die §§ 29 bis 31 des InfektSchutzG. Demnach können Beobachtungen, Quarantäne und berufliche Tätigkeitsverbote ausgesprochen werden.

Die beschlossenen Maßnahmen der Kontaktreduzierung bedeuten eine Einschränkung der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Grundgesetz), Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und der Freizügigkeit (Art. 11 GG).

Führende Verfassungsrechtler wie Christoph Möllers (Humboldt-Universität Berlin), Arnd Diringer (Hochschule Ludwigsbrug), Hans-Jürgen Papier (ehem. Präsident des Bundesverfassungsgerichts) äußern in der WELT am SONNTAG (Ausgabe vom 29.3.2020) Bedenken gegen die verfassungsrechtliche Rechtmäßigkeit dieser angeordneten Maßnahmen. Insbesondere, so Papier, rechtfertigen Notlagenmaßnahmen nicht die Außerkraftsetzung von Freiheitsrechten zugunsten eines Obrigkeits- und Überwachungsstaates. Dagegen ist Thomas Schomers (Universität Lüneburg) der Auffassung, dass die Freiheitsbeschränkungen im Kampf gegen das Corona-Virus angemessen sei.

2.

Ob § 32 S. 1 i.V.m. § 28 I, 1, 2 InfektSchutzG eine taugliche Rechtsgrundlage ist, ist zu prüfen.

Grundrechtsbeschränkungen sind allerdings schwerwiegender Art, die überdies verhältnismäßig sein müssen, also geeignet, erforderlich und angemessen. Eine solche Krise, in der wir uns gerade befinden, ist ein einzigartiger Eingriff in unsere Freiheitsrechte. Diese Eingriffe sind nur temporär zulässig und zwar solange, bis der medizinische Sachverstand für Lockerungen bzw. Aufhebung der Maßnahmen „grünes Licht“ gibt.

Für solche schwerwiegenden Grundrechtsbeschränkungen ist nach diesseitiger Ansicht § 28 InfektSchutzG (in der bis 28.3.2020 geltenden Fassung) keine ausreichende Rechtsgrundlage.

IV.

Eine taugliche Rechtsgrundlage könnte im Polizei- und Ordnungsbehördengesetz (POG) Rheinland-Pfalz zu finden sein.

1.

Standardmaßnahmen der §§ 9 a bis 42 POG kommen nicht in Betracht.

In Betracht kommen könnte die Eingriffsgeneralklausel des § 9 I POG. Hiernach können u.a. die allgemeinen Ordnungsbehörden die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Fall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abzuwehren.

Ein einzelner Fall liegt in der Corona-Krise gerade nicht vor, da eine unbestimmte Zahl von Personen daran bereits erkrankt bzw. von der Krankheit bedroht ist. Die Eingriffsgeneralklausel kommt als taugliche Rechtsgrundlage nicht in Betracht.

2.

In Betracht kommen könnte eine Gefahrenabwehrverordnung gem. § 43 I POG. Eine Gefahrenabwehrverordnung ist eine Rechtsverordnung, die sich an einen unbestimmten Personenkreis richtet und nicht auf einen konkreten Einzelfall bezogen ist (abstrakt-generelle Regelung).

Die Ordnungsbehörden können eine Gefahrenabwehrverordnung zur Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung erlassen, in der Gebote und Verbote für eine unbestimmte Zahl von Fällen erlassen werden.

a) Es muss sich um eine Fahr handeln. § 43 I POG setzt voraus, dass eine abstrakte Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung abgewehrt werden soll (unbestimmte Vielzahl von Fällen). Eine abstrakte Gefahr ist gegeben, wenn bei bestimmten Verhaltensweisen oder Zuständen nach allgemeiner Lebenserfahrung oder fachlichen Erkenntnissen typischerweise ein Schaden zu erwarten ist.

Der bisherige Umgang der Menschen untereinander (weniger als 1,5 Meter Abstand, eine Vielzahl von Menschen auf engstem Raum) trägt nach medizinischer Erkenntnis dazu bei, dass sich der Corona-Virus ungehemmt auf eine Vielzahl von Menschen übertragen lässt, die bei einer Infizierung daran ernsthaft erkranken können. Somit ist eine abstrakte Gefahr gegeben.

b) Es muss sich um eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit handeln. Hierzu gehören alle Individualrechtsgüter, also u.a. die Unversehrtheit von Leben und Gesundheit. Die ungehemmte Ausbreitung des Corona-Virus bedroht die Unversehrtheit von Leben und Gesundheit einer Vielzahl von Menschen. Somit ist eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit gegeben.

c) In der Rechtsverordnung sind u.a. die in Ziffer II. genannten Verbote zur Kontaktreduzierung erlassen worden. Sie müssen dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechen.

aa) Die genannten Beschränkungen müssen geeignet sein. Sie sind bei Befolgung geeignet, die Ansteckungsgefahr durch das Corona-Virus erheblich zu minimieren.

bb) Die genannten Beschränkungen müssen erforderlich sein. Sie sind erforderlich, da nur bei Befolgung dieser kontaktreduzierenden Maßnahmen der angestrebte Erfolg (Verlangsamung der infizierten Personenzahl) eintreten wird.

cc) Die genannten Beschränkungen müssen angemessen sein (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne). Die Beschränkungen sind dann angemessen, wenn sie nur für den Zeitraum angeordnet werden, der nach medizinischen Kenntnissen erforderlich ist. Danach sind die Beschränkungen unverzüglich aufzuheben.

d) Die Gefahrenabwehrverordnung muss inhaltlich hinreichend bestimmt sein (§ 45 II POG). Dies ist der Fall (siehe die erlassene Landesverordnung).

Ergebnis: § 43 I POG (i.V.m. § 28 I, 1, 2 InfektSchutzG) ist eine taugliche Rechtsgrundlage für die erlassene Rechtsverordnung, die die genannten grundrechtseinschränkenden Maßnahmen zum Ziel haben.

V.

Zwischenzeitlich wurde am 25.3./27.3.2020 das InfektSchutzG ergänzt.

B)

I.

Wie unter A) III.1. genannt, haben mehrere Verfassungsrechtler verfassungsrechtlich erhebliche Bedenken gegen die angeordneten Maßnahmen zur Kontaktbeschränkung geäußert. Sind die Bedenken gerechtfertigt?

Auf der einen Seite steht das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 II GG) und auf der anderen Seite die Rechte auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 I GG), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) und der Freizügigkeit (Art. 11 GG).

Wir befinden uns somit im Bereich des kollidierenden Verfassungsrechts.

Die Versammlungsfreiheit ist ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht, während in das Persönlichkeitsrecht und das Recht der Freizügigkeit nur aufgrund bzw. durch Gesetz eingegriffen werden darf (Art. 2 II, 11 II GG).

Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung BVerfGE 28, 243, 261 wie folgt ausgeführt: „ Nur kollidierende Grundrechte Dritter und andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechtswerte sind mit Rücksicht auf die Einheit der Verfassung und die von ihr geschützte gesamte Wertordnung ausnahmsweise imstande, auch uneinschränkbare Grundrechte in einzelnen Beziehungen zu begrenzen.“

Wenn Kollisionen zwischen verfassungsrechtlich geschützten Rechtsgütern entstehen, dann darf nicht eines von ihnen einseitig bevorzugt und auf Kosten des anderen realisiert werden. Vielmehr müssen beiden Grenzen gezogen werden, aber in einer Weise, dass beide, wenn auch beschränkt durch das andere, zu möglichst optimaler Wirksamkeit gelangen (Prinzip der praktischen Konkordanz).

II.

Fraglich ist, ob dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ein höherrangiger Wert als die Rechte auf allgemeine Handlungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Freizügigkeit einzuräumen ist.

Diringer äußert die Sorge, dass Grundrechte Gefahr laufen, relativiert zu werden, wenn sie sich gerade bewähren müssen. Dem ist entgegen zu treten, dass wir es erstmals nach Ende des 2. Weltkriegs mit einer weltweiten sehr ernsten Krise zu tun haben, die Leib und Leben einer unbestimmten Vielzahl von Menschen bedroht bzw. auch schon zu Tode gebracht hat. Mit einer solchen Krise gibt es keine Erfahrungen und die Maßnahmen, die von den Ländern beschlossen wurden, sind nach diesseitiger Ansicht das notwendigste und mildeste Mittel der Beschränkung von Grundrechten.

Papier sagt, dass Notlangenmaßnahmen nicht die Außerkraftsetzung von Freiheitsrechten zugunsten eines Obrigkeits- und Überwachungsstaates rechtfertigen. Nach diesseitiger Ansicht ist Papier hier zu kurz gesprungen. Es geht nicht um die Außerkraftsetzung von Freiheitsrechten zugunsten des Staates, sondern es geht ausschließlich um eine Beschränkung von Freiheitsrechten limitiert für einen noch nicht bekannten Zeitraum zugunsten des Wohls der Volksgesundheit und somit um das Wohl des Einzelnen. Die Beschränkung hat dann ihr Ende zu finden, wenn die Gefahrenlage dies hergibt.

Ergebnis: Die temporäre Beschränkung von Freiheitsrechten  ist zum Wohle der Volksgesundheit verhältnismäßig um nach Beendigung der Gefahrenlage die übrigen Grundrechte in vollem Ausmaß wieder in Anspruch nehmen zu können. Deshalb ist das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit höherrangig als die Rechte der allgemeinen Handlungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und Freizügigkeit. Die Bedenken führender Verfassungsrechtler gegen die von den Ländern angeordneten Maßnahmen zur Grundrechtseinschränkung sind nach diesseitiger Ansicht nicht gerechtfertigt.

HK 30.3.2020