Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil vom 19.3.2013 entschieden, dass die gesetzliche Regelung zur Verständigung im Strafprozess trotz eines erheblichen Vollzugsdefizits derzeit noch nicht verfassungswidrig sind. Der Gesetzgeber muss jedoch die Schutzmechanismen, die der Einhaltung der verfassungsrechtlichen Anforderungen dienen, fortwährend auf ihre Wirksamkeit prüfen und gegebenenfalls nachbessern. Bei Unterlassung von erforderlichen Nachbesserungen träte ein verfassungswidriger Zustand ein.
Nach Auffassung des BVerfG beruht das Strafrecht auf dem Schuldgrundsatz, der Verfassungsring genießt. Verankert sei dies in der Garantie der Würde und Eigenverantwortlichkeit des Menschen (Art. 1 I und Art. 2 I GG) sowie im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG). Zentrales Anliegen des Strafprozesses ist die Ermittlung des wahren Sachverhalts, ohne den sich das materielle Schuldprinzip nicht verwirklichen lässt.
Der Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit und die Unschuldsvermutung sind im Rechtsstaatsprinzip verankert und haben Verfassungsrang.
Es ist dem Gesetzgeber aber nicht ausdrücklich verwehrt, Verständigungsmöglichkeiten zur Verfahrensvereinfachung zuzulassen. Es sind klare gesetzliche Vorgaben für dieses bedeutsame, aber stets umstritten gebliebene Institut der Verständigung zu schaffen.
Das Verständigungsgesetz verweist ausdrücklich auf die Pflicht des Gerichts, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären. Die Verständigung als solche kann niemals alleinige Urteilsgrundlage sein, sondern dies ist weiterhin ausschließlich die Überzeugung des Gerichts. Das verständigungsbasierte Geständnis ist zwingend auf seine Richtigkeit zu überprüfen.
Transparenz und Dokumentation von Verständigungen stellen einen Schwerpunkt des Regelungskonzepts dar. Dies soll eine effektive Kontrolle durch Öffentlichkeit, Staatsanwaltschaft und Rechtsmittelgericht gewährleisten. Diese Vorgänge müssen regelmäßig in die öffentliche Hauptverhandlung einbezogen werden.
Ein Verstoß hiergegen führt grundsätzlich zur Rechtswidrigkeit einer gleichwohl getroffenen Verständigung.
Eine herausragende Bedeutung kommt der Staatsanwaltschaft zu. Sie ist nicht nur gehalten, ihre Zustimmung zu einer gesetzwidrigen Verständigung zu versagen, sondern hat auch Rechtsmittel gegen Urteile einzulegen, die auf einer solchen Verständigung beruhen.
Ferner sieht das Verständigungsgesetz vor, dass der Angeklagte zu belehren ist, unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Folgen das Gericht von dem in Aussicht gestellten Ergebnis abweichen kann.
Das Verständigungsgesetz sichert die Einhaltung der verfassungsrechtlichen Vorgagen in ausreichender Weise. Der in erheblichem Maße defizitäre Vollzug des Verständigungsgesetzes führt derzeit nicht zur Verfassungswidrigkeit der gesetzlichen Regelung.
Informelle Absprachen sind eindeutig verfassungswidrig, so das BVerfG.
Der Gesetzgeber muss die weitere Entwicklung sorgfältig im Auge behalten. Fehlentwicklungen sind durch geeignete Maßnahmen entgegenzuwirken.
Pressestimmen:
Thorsten Jungholt, DIE WELT, 20.3.2013:
Eine Studie des Düsseldorfer Kriminologen Karsten Altenhain für das Verfassungsgericht offenbarte: Fast 60 Prozent der Richter treffen die Mehrzahl ihrer Absprachen ohne die im Gesetz vorgeschriebene Protokollierung. Sie rechtfertigen das mit dem Argument, die gesetzliche Kontrolle sei nicht praxistauglich, nur durch informelle Absprachen könnten Arbeitsüberlastung und langwierige Beweisaufnahmen vermieden werden.
Im Strafprozess, in grauer Vorzeit dazu gedacht, die Wahrheit zu ermitteln und eine schuldangemessene Strafe zu finden, wird weiter mehr gehandelt als verhandelt. Die Regeln für den Deal gelten dabei als hinderlich und werden deshalb ignoriert.
Am besten wäre es, den Deal abzuschaffen, weil dessen Konsensprinzip nicht zum deutschen Strafprozess passt.
Generalbundesanwalt Harald Range begrüßte die Entscheidung, in der die Verfassungsrichter die besondere Kontrollfunktion der Staatsanwaltschaft bei Deals hervorgehoben hatten. „Das stellt unsere erhöhte Verantwortung heraus, für Gerechtigkeit zu sorgen.“
Der frühere Richter am Bundesgerichtshof, Wolfgang Neskovic, allerdings warf eine berechtigte Frage auf. Warum, so der parteilose Bundestagsabgeordnete, sollten Richter, Staatswanwälte und Verteidiger, die das Deal-Gesetz bislang ignoriert haben, ihr Verhalten nun ändern? Es sei Ausdruck betrübter Ratlosigkeit, wenn das BVerfG die Beteiligten im Ergebnis lediglich zu mehr Rechtstreue aufruft.
Neskovic fordert deshalb die Schaffung eines neuen Straftatbestands, der informelle Deals sanktioniert.
Christian Bommarius, Frankfurter Rundschau, 20.3.2013:
Der Gerichtssaal ist ein Marktplatz, auf dem nicht die Wahrheit gesucht, sondern ein für alle Beteiligten akzeptables Ergebnis gefunden wird.
Wenn nicht mehr Gerichte nach der Verhandlung entscheiden, sondern über die Entscheidung verhandeln, ist das Strafrecht nicht mehr Verbot und Weisung, sondern Ware.
Rechtsprechung soll recht und billig sein, nicht aber das Recht billig. Doch sein Wertverlust ist offensichtlich, wenn es in der Praxis nicht mehr als das Ergebnis eines Tauschhandels ist.
Seit mehr als 30 Jahren wird in den Gerichten gedealt und geschachert, in aller Regel diskret, hinter verschlossenen Türen, also unter Ausschluss der Öffentlichkeit und ohne Möglichkeit einer Kontrolle.
Die Vorschriften des Gesetzes sind eindeutig, aber die meisten Richter halten sie für wenig praktikabel und erklärten sie – für deutsche Richter ein recht ungewöhnliches Verhalten- in ihren Verfahren für ungültig.
Wenn zwei Personen unerlaubt zusammenwirken, um einen Dritten zu schädigen (sog. Kollision), dann ist das Rechtsgeschäft wegen Sittenwidrigkeit nichtig und gibt dem Dritten einen Anspruch auf Schadensersatz, den er vor Gericht durchsetzen kann. Wenn aber Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung zusammenwirken, um eine gesetzwidrige Absprache zu treffen, dann ist das zwar ebenfalls rechtswidrig, aber der Geschädigte – das Gesetz – wird nie und nimmer seine Rechtsverletzung beklagen können.
Das ist die Zukunft des Strafverfahrens: Der Deal ersetzt die Suche nach der Wahrheit. Mal zulässig, mal rechtswidrig, aber immer beseelt vom Geist des Kaufmanns.
Mü., Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.3.2013:
Beim Deal geht es nicht nur um Formalien, sondern um Werte von Verfassungsrang. So muss Schuld Voraussetzung für Strafe sein. Kein beschuldigter darf dazu gezwungen werden, sich selbst zu belasten. Und es muss aufgeklärt werden, was geschehen ist. Sonst droht ein verfassungswidriger Zustand. Der Gesetzgeber hat jetzt den Auftrag, die Lage zu beobachten.
Das ist auch ein Akt der Hilflosigkeit. Denn offensichtlich können viele Angeklagte kein faires Verfahren mehr erwarten. Sie werden dazu gezwungen, Taten zu gestehen, die sie gar nicht begangen haben- um Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigern (die übrigens Organe der Rechtspflege sind) die Arbeit zu erleichtern. Welcher Verfahrensbeteiligte hier wen unter Druck setzt, ist dabei gar nicht erheblich – solange nicht der Angeklagte seine Rechte verliert.
Man kann verstehen, dass Karlsruhe nicht die gesetzliche Regelung verworfen hat, denn die sieht ja gerade keinen informellen Basar des Rechts vor. Die Frage ist nun, ob sich die unter tatsächlichen wie eingebildeten Zwängen stehenden Praktiker um die Karlsruher Mahnungen scheren.
Helmut Krethe - 28.05.2013 -